aus der Süddeutschen Zeitung

September 2004

Wirbel ums Abwasser

Wenn der Westen den Osten kanalisiert

In Brandenburg entstanden viel zu große Klärwerke. Daher klagen die Bürger jetzt über die bundesweit höchsten Abwassergebühren. Die EU-Betrugsbekämpfer ermitteln.

In dieser Woche sind die brandenburgischen Landtagsabgeordneten jeden Tag auf ein anrüchiges Thema gestoßen. An der Treppe vor dem Landtag lauerten ihnen Menschen auf, die ein Dutzend Abwasser- Initiativen vertreten.

"Hungerstreik", stand auf den Pappschildchen, die sie an ihre Jacken geheftet hatten. "Enteignung" und "Diebstahl", "Nötigung" und "Betrug", war filzstiftdick auf den Plakaten gekrakelt.


Wütend

Die Menschen von Brandenburg sind wütend. Die Märkischen fühlen sich von turmhohen Schulden niedergedrückt und von Gesetzen entmündigt. "Mein Schmutzwasser gehört mir!", sagen sie.

Wegen dieses Abwassers herrscht in Brandenburg seit langem Aufruhr. Vordergründig wird um die Gebühren für die Entsorgung gestritten. Eigentlich geht es jedoch darum, wie der Westen eine Idee über den Osten gestülpt hat – und wie der sich übertölpeln ließ.

Zwischen Potsdam und Brandenburg (Havel) liegt Jeserig. Mitten im Feld steht das Klärwerk. In einem Betonbecken schwimmt braune Brühe, nebenan stapelt sich der Schlamm in zwei Türmen.

"Rechen harken das ‚Dicke‘ aus dem Abwasser heraus", erklärt Günter Jäger, "die Feinarbeit erledigen Bakterien." Das gereinigte Wasser fließt in die Havel, den Schlamm holen sich Landwirte.


Es fehlt an Schmutz

Günter Jäger ist Geschäftsführer des Klärwerks. Im Abwasser- zweckverband Emster sind die zehn Gemeinden organisiert, die nach Jeserig einleiten. 1995 war das Klärwerk eingeweiht worden.

"Meine Vorgänger haben die Anlage auf eine Million Kubikmeter Abwasser pro Jahr ausgelegt", sagt Jäger. "Heute kommen wir etwa auf eine Auslastung von 350 000 Kubikmetern." Schnell stiegen die Gebühren, schon 1996 kam es deswegen zu tumultösen Versammlungen.

Aus seinem Büro schaut Günter Jäger auf Brachland. Eigentlich müsste er ein mindestens 30 Hektar großes Gewerbegebiet sehen, so war es mal gedacht. Dem teuer gebauten Klärwerk Jeserig fehlt das Abwasser der Firmen, die dort produzieren, und es fehlt das Abwasser der Arbeiter, die in die Nachbarschaft ziehen sollten.

Die Kunden, die das Klärwerk heute in den zehn Gemeinden hat, liefern schlicht nicht genug Schmutz. Also ist der Zweckverband Emster mit etwa fünf Millionen Euro verschuldet.

An Warnungen hatte es nicht gefehlt. Schon am 25. September 1992 wandte sich die Westdeutsche Landesbank an den Investor, der in Jeserig das Super-Klärwerk bauen wollte.

Die „Rahmendaten, die der Dimensionierung der Anlage zugrunde liegen“ seien doch „sehr optimistisch: Verdopplung der Einwohnerzahl binnen fünf Jahren, hohe Kapazitätsreserven für Gewerbeansiedlung“, schrieben die Banker.

Eine Schwachstelle in diesem Millionenspiel um schmutziges Wasser sind die Zweckverbände, in die die Gemeinden verdiente Ratsmitglieder entsenden.


"Zwangskanalisierung"

Der brandenburgische Landesrechnungshof hatte 2001 per Stichprobe Schlampereien im Dutzend aufgedeckt. In einem Fall musste „die Prüfung von Baumaßnahmen und der Verwendung von Fördermitteln abgebrochen werden, weil die Unterlagen nicht aussagefähig bzw. nicht vorhanden waren“.

In mindestens zwei Fällen stieß der Rechnungshof auf „Interessen- kollisionen“. Im Klartext: Der Zweckverbandsvorsitzende, der den Auftrag vergab, und der Bauherr, der ihn ausführte, waren ein- und dieselbe Person.

Im wendeverwirrten Brandenburg mit seinem enormen Investitions- bedarf hätten in den Abwasserzweckverbänden Profis sitzen müssen, um die Katastrophe zu erahnen. So kam es in Jeserig, wie es kommen musste: Beraten von einem Planungsbüro aus dem Westen klotzte eine Baufirma aus dem Westen das Klärwerk in den Osten.


Bundesweit höchste Abwassergebühren

Brandenburg ächzt unter den bundesweit höchsten Abwassergebühren. Im Durchschnitt zahlen die Bürger 3,31 Euro pro Kubikmeter. Bundesweit liegt der Satz bei 2,28 Euro.

Ostdeutschland kennt so viele dieser Jeserigs, dass sich inzwischen auch Brüssel für die Misswirtschaft interessiert. Das „Europäische Amt für Betrugsbekämpfung“, Olaf genannt, hat Nachforschungen eingeleitet.

Auch der EU-Wirtschaftsausschuss kritisierte die „Fehlplanungen, die in Ostdeutschland zu exorbitanten Gebühren geführt haben und mittlerweile einen echten Standortnachteil darstellen“.

Obwohl Brielow nur etwa 50 Kilometer westlich von Potsdam liegt, könnte Brandenburg nicht ländlicher sein als in diesem Dorf. Hier wohnt die Rentnerin Ingrid Feuerherd auf einem ehemaligen Bauernhof. Jahrelang hat sie sich vor Gericht gegen das gewehrt, was die Menschen hier „Zwangskanalisierung“ nennen.

„Unser Wasser kam aus dem Hausbrunnen. Und für das Schmutzwasser hatten wir die Sammelgrube. Wenn sie voll war, kam der landwirt- schaftliche Nutzer und fuhr das Zeug auf die Felder“, erzählt die Frau.

Vor zwei Jahren musste Feuerherd 26.000 Euro dafür zahlen, dass ihr der Staat im großen Stil Wasser liefert und Schmutzwasser abnimmt. Die Alternative, eine Kleinkläranlage auf dem eigenen Hof, wurde nicht genehmigt. „Kleinere Erbschaften, Abfindungen, sogar Jahresend- prämien aus DDR-Zeiten – alles ist draufgegangen“, sagt sie.


Platzeck und die Abwasserpolitik

Schon früh hat sich die brandenburgische PDS der Abwasser- Geschädigten angenommen. Dagmar Enkelmann, Spitzenkandidatin für die Landtagswahl am Sonntag, hält „aus ökonomischen und ökologischen Gründen“ dezentrale Kleinkläranlagen für besser als große Klärwerke.

Am Donnerstag beendeten die Initiativen, die vor dem Landtag kampierten, ihren Hungerstreik mit einem kleinen Triumph. Das Umweltministerium sicherte in einem „Positionspapier“ zu, die Gemeindeordnung so zu präzisieren, dass die Zweckverbände Bürger nicht mehr einfach zwangsanschließen können.

Dagmar Enkelmann übt grundsätzliche Kritik an dem SPD-Spitzenmann Matthias Platzeck: „Die Folgen seiner verfehlten Abwasserpolitik als Umweltminister in den neunziger Jahren holen ihn jetzt als Ministerpräsident ein.“

Die Gesamtverschuldung der Abwasserzweckverbände taxiert die Umweltexpertin auf eine Milliarde Euro. Zwar liegt die Zuständigkeit für das Abwasser bei den Gemeinden und die direkte Aufsicht bei den Landkreisen.


Zum Desaster beigetragen?

Wer jedoch wie das Land Brandenburg den Bau von Kläranlagen und Leitungen bislang mit 910 Millionen Euro bezuschusst habe, müsse sich schon fragen lassen, ob er nicht zu dem Desaster beigetragen habe.

Der Mann, der den Schuldenberg der Zweckverbände abschmelzen soll, heißt Thomas Bachmann. Im Umweltministerium leitet er den „Arbeitsstab Schuldenmanagement“.

Das Minus beim Abwasser hatte viele Kommunen an den Rand der Zwangsverwaltung getrieben. Jetzt bekommt jeder notleidende Abwasserverband Geld vom Land – aber nur, wenn sie nachweisen, dass sie ihre Schieflage mit allen Mitteln gerade rücken.


Kein Stein auf dem anderen

„Wir schicken dem verschuldeten Zweckverband einen Banker, einen Juristen, einen Wirtschaftsprüfer und einen Techniker ins Haus“, sagt Bachmann und macht eine Kunstpause. „Die lassen keinen Stein auf dem anderen.“

In der Regel wird der Verband die Gebühren erhöhen und die Betriebskosten senken. Außerdem verordnet Bachmanns Team den Bürgermeistern allerstrengstes Sparen. „Was bleibt, ist zum Sterben zu viel, aber zum Leben zu wenig“, klagt einer der betroffenen Bürgermeister.

Am vergangenen Dienstag tingelte Ex-Kanzler Helmut Kohl durch Brandenburg. Sein Versprechen von blühenden Landschaften sei der „Euphorie der Wendezeit“ geschuldet, sagte Kohl. Er räumte ein, die Schwierigkeiten falsch eingeschätzt zu haben.